Julius Jetter – Seine Seele in Worte gekleidet

Perspektivwechsel! Geschichtswissenschaft ist quellenbasierte, faktenorientierte und gewissermaßen nüchterne Forschung. Persönliche Dokumente, die von einer Person selbst verfasst wurden und ihre individuellen Erlebnisse, Gedanken und Gefühle widerspiegeln sind dabei willkommene Ergänzungen, die es allerdings immer kritisch zu hinterfragen gilt. Dieser Wesenszug der Historikerzunft wird heute ausgeblendet. Stattdessen möchten wir eine empfindsame Seele zu Wort kommen lassen.

„Wie seltsam ist doch die Liebe. Liebe, die ich mit dem ganzen mächtigen Verlangen meiner Jugend ersehnte, endlich hatte sie sich aus dem Zauberland der Träume zu mir geschlichen.“[1]

Über Jetter, der am 04.02.1898 in Schwäbisch Gmünd geboren wurde und lange im Mühlbergle 12 wohnte, ist bisher wenig bekannt. Er scheint im „Kreis der Freunde[2] , einem heimlichen schwulen Netzwerk in den 1920er Jahren, eine wichtige Rolle gespielt zu haben. Im Augenblick suchen wir nach seinen Spuren.

„Die Sinne berauschend weckte er in meinen Augen die schlummernde Sehnsucht, ließ auf meinen Lippen das Verlangen beben und schüttelte mich im in dem Fieber des Begehrens nach dem Hohenliede der Liebe.“

Julius Jetter scheint ein Mensch gewesen zu sein, der seine tiefen Gefühle und literarischen Neigungen in emotionalen Texten zu Papier brachte. Seine Werke sind nicht nur Ausdruck seiner Kreativität, sondern auch bedeutende Selbstzeugnisse, die Einblicke in sein innerstes Empfinden bieten. Zwei seiner Erzählungen veröffentlichte er in der Zeitschrift „Der Eigene“, einer Publikation, die sich an schwule Männer richtete und für die Homosexuellenbewegung im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts von größter Bedeutung war.[3] Seine Stimme war so, auch außerhalb von Schwäbisch Gmünd, einer größeren Öffentlichkeit zugänglich.

„In süßen Küssen ging das Liebesstammeln unter. Nur ein Flüstern noch: ‚Lass Eins uns sein‘.“

Das Besondere an Julius Jetters Schriften ist, dass sie eine seltene Quelle persönlicher Reflexion darstellen. In einer Zeit, in der homosexuelle Männer meist nur in amtlichen Quellen oder durch die Beschreibungen Dritter auftauchten, sind seine Texte im lokalen Kontext einzigartig. Sie ermöglichen es uns, die Gefühle eines homosexuellen Mannes direkt aus seiner eigenen Perspektive zu verstehen. Dies ist ein seltener und wertvoller Moment in der historischen Betrachtung, da solche persönlichen Äußerungen oft nicht erhalten bleiben.

„Auf diese sturmbewegte Nacht folgte noch manche voll des süßen Glücks. Doch einmal hatte eine der himmlischen Nächte Augen und Ohren. Man hatte uns gesehen; man hatte uns belauscht. Nicht mehr konnten wir zusammenkommen. Und alsbald warf die Welt, nach deren Gesetzen wir gesündigt haben, Steine nach uns.“

Seine Texte zeugen von einer intensiven Auseinandersetzung mit seinen Emotionen. In einer Zeit, die von gesellschaftlichen Repressionen gegen anders Liebende geprägt war, boten sie ihm eine Möglichkeit, seine Gefühle offen zu teilen. Sie sind ein Beleg für das Streben nach künstlerischem Ausdruck.

„Einmal gedachte ich noch all des Glückes, das uns Beiden so kurz und doch so selten schön geblüht hatte. Dann schlich ich wieder hinaus in das Dunkle der Nacht, als ein Einsamer.“

Zeitschrift "Der Eigene"

Literaturverzeichnis
> Kolb, Arnd: „Kreis der Freunde“ – Ein heimliches Netzwerk schwuler Männer in Ostwürttemberg in den 1920er Jahren, in: OSTALBum, Gemeinsames Blog der Kommunalarchive im und um den Ostalbkreis, https://ostalbum.hypotheses.org/3849, (Abruf 07.06.2024).
> Adrast, in: Wikipedia, https://de.wikipedia.org/wiki/Adrast, (Abruf: 07.06.2024).
> Franz Schubert, in: Wikipedia, https://de.wikipedia.org/wiki/Franz_Schubert, (Abruf: 07.06.2024). 

Archivalische Quellen
Brandt, Adolf: Der Eigene, Ein Blatt für männliche Kultur, Berlin 1920, Bd. 8, S. 115-117, aus; Digitale Sammlung der Humboldt-Universität zu Berlin, https://www.digi-hub.de/viewer/image/1570623763616/97/LOG_0119/, (Abruf: 07.06.2024).
aus: Brandt, Adolf: Der Eigene, siehe oben!

[1] Die folgenden Zitate stammen aus Julius Jetters Erzählung „Adrast“, in: Brandt, Adolf: Der Eigene, Ein Blatt für männliche Kultur, Berlin 1920, Bd. 8, S. 115-117, aus; Digitale Sammlung der Humboldt-Universität zu Berlin, https://www.digi-hub.de/viewer/image/1570623763616/97/LOG_0119/, (Abruf: 07.06.2024). Der Name Adrast könnte eine Anspielung auf eine Oper von Franz Schubert gewesen sein, in der es um einen Mann geht der den Sohn des Königs beschützen muss. Schubert selbst wir Homosexualität nachgesagt. Siehe dazu die entsprechende Artikel „Adrast“ und „Franz Schubert“ auf Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Adrast und https://de.wikipedia.org/wiki/Franz_Schubert, (Abruf: 07.06.2024). 

[2] Siehe dazu: Kolb, Arnd: „Kreis der Freunde“ – Ein heimliches Netzwerk schwuler Männer in Ostwürttemberg in den 1920er Jahren, in: OSTALBum, Gemeinsames Blog der Kommunalarchive im und um den Ostalbkreis, https://ostalbum.hypotheses.org/3849, (Abruf 07.06.2024).

[3] Seine zweite Erzählung: Fedja, in: Der Eigene, Bd. 8. S. 117.

Scroll to Top