Alles aufgeklärt? Das Sexualwissen Jugendlicher im Raum Schwäbisch Gmünd um 1970

Was verstehts Du unter Homosexualität? Was unter lesbischer Liebe? Diese Fragen beinhaltete eine Studie der Pädagogischen Hochschule (PH) Schwäbisch Gmünd, an der 1970 739 Jugendliche teilnahmen. Abgefragt wurde das Sexualwissen Gmünder Jugendlicher. Was sie dabei von sich gaben, spiegelt nicht nur ihre persönliche Reife, sondern vor allem den Zeitgeist dieser Epoche wider.

„Das Sexualwissen Jugendlicher im Raum Schwäbisch Gmünd – eine empirische Untersuchung über sexualkundliche Kenntnisse 12- bis 16-jähriger Schüler.“ So lautet der offizielle, etwas sperrige Titel einer Zulassungsarbeit, die Volker Wöhl, ein Student der PH, zur ersten Dienstprüfung für das Lehramt an Grund- und Hauptschulen im Sommersemester 1970 einreichte.[1] Die Studie sah sich als Teil einer sexualpädagogischen Forderung, dass geschlechtliche Erziehung untrennbar mit der allgemeinen Erziehung des Kindes verbunden sei.[2]

Sie entstand in der Übergangsphase zwischen der öffentlich propagierten „Sexuellen Revolution“ der 1960er Jahre und einer langsam einsetzenden gesellschaftlichen sexuellen Modernisierungsphase der 1970er. Ihr Entstehen muss deshalb im Kontext der umfassenden gesellschaftlichen Veränderungen jener Zeit betrachtet werden. Insbesondere die Liberalisierung der Sexualmoral und rechtliche Veränderungen beeinflussten auch die Studie. So führte die Reform des § 175 zu einer anderen Wahrnehmung von Homosexualität. Die Ergebnisse spiegeln daher nicht nur individuelles Wissen wider, sondern auch den gesellschaftlichen Wandel dieser Zeit.

Die Studie
Für Volker Wöhl bestand eine erste Herausforderung darin, genügend Schulleiter, Pädagogen und Eltern zur Teilnahme zu bewegen. Von 25 angefragten Schulen, erteilten 13 eine Absage. Häufige Beweggründe waren laut Wöhl eher in auftretender Angst (z. B. vor dem Pfarrer), Unsicherheit, eigener Verklemmung und mangelnder Verantwortungsbereitschaft zu suchen, als in echten Gewissenskonflikten aus pädagogischen Überlegungen heraus. Aber auch sonst zeigte eine große Anzahl von Eltern und Lehrer wenig Verständnis für die Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Untersuchung:

„Viele haben sich erst nach eingehenden Diskussionen, Beratungen und gründlichsten „Rückversicherungen“ zur Zustimmung entschließen können. Nicht wenigen Erziehern sind die grundsätzlichen sexualpädagogischen Probleme und Notwendigkeiten völlig unklar.“[3]
Volker Wöhl

Die im Titel der Studie angegebene Altersspanne zwischen 12 und 16 Jahren ist etwas missverständlich. In der Mehrzahl wurden vorwiegend SchülerInnen zwischen 14 und 15 befragt, die verschiedenen Schultypen angehörten.[4] Innerhalb dieser Gruppe war unter den Befragten das Geschlechterverhältnis ungefähr ausgeglichen. Die Erhebung wurde mittels eines Fragebogens anonym durchgeführt. 57 festgelegte Fragen und Antwortoptionen ermöglichten eine systematische Erhebung und Analyse von Meinungen, Einstellungen, Kenntnisstand oder Verhaltensweisen. Für die richtige Nennung oder korrekte Erklärung wurden Punkte verteilt, die dann in Prozentzahlen umgerechnet wurden.[5]

Abgefragt wurde das Wissen über die Kenntnisse der Geschlechtsorgane und ihre Funktionen, Geschlechtskrankheiten, Verhütungsmittel sowie die Begriffe, „Onanie“, „lesbische Liebe“ und „Homosexualität.“[6] Im Folgenden widmet sich dieser Artikel der Analyse der sechsten Frage „Die Kenntnis des Begriffs lesbische Liebe“ sowie der siebten Frage „Kenntnis des Begriffs Homosexualität“.

Die Ergebnisse
Die von Wöhl erhobenen Daten illustrieren die positive Entwicklung des Sexualwissens unter Jugendlichen zum Zeitpunkt der Untersuchung. Durch den Vergleich seiner Daten mit den Ergebnissen wissenschaftlicher Studien, die in Deutschland in den 1960er Jahren durchgeführt wurden, treten signifikante Fortschritte zutage. Diese Erkenntnisse betrafen vor allem die Kenntnisse der Geschlechtsorgane und ihre Funktionen, Geschlechtskrankheiten und Verhütungsmittel.[7]

Bei den Bereichen „Onanie“, „lesbisch Liebe“ und „Homosexualität“ kam es dagegen zu überraschenden Ergebnissen.[8] Positiv hervorzuheben ist, dass Fragen zur Homosexualität überhaupt gestellt wurden, was an sich bereits einen bedeutenden Fortschritt darstellt. Im Gegensatz zu anderen Fragen der Studie, z. B. über Kenntnisse der Geschlechtsorgane etc., wurden hier keine Werte aus früheren Erhebungen verglichen, was darauf hindeutet, dass diese Kategorien in früheren Studien möglicherweise nicht abgefragt wurden. Dies allein signalisiert eine Liberalisierung der Thematik. Überraschenderweise ist der Wissensstand im Bereich „Homosexualität“ gegenüber den Begriffen „Onanie“ und „lesbische Liebe“ bemerkenswert hoch. Während nur etwa 25 % der befragten SchülerInnen korrekte Angaben zu den anderen Begriffen machen konnten, lag die Zahl richtiger Antworten zum Begriff „Homosexualität“ bei etwa 50 %.

Wöhl führte den höheren Wissensstand der Jugendlichen hinsichtlich Homosexualität auf die intensiveren öffentlichen Diskussionen im Vorfeld der Strafrechtsreform des § 175 im September 1969 zurück. Diese Reform und die damit verbundenen Debatten brachten das Thema stärker ins öffentliche Bewusstsein und vielleicht auch in den schulischen Unterricht. Gleichzeitig stellte er fest, scheint die Scheu der Pädagogen, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen, erheblich geringer gewesen zu sein als bei anderen Bereichen wie „Onanie“, das stärker tabuisiert wurde.

„Während man das Thema „Selbstbefriedigung“ vollständig aus dem Aufklärungsgeschehen ausklammert oder es dem Schüler total ‚vermiest‘ (weil Masturbation kategorisch abgelehnt, verurteilt, ja sogar als ‚Schweinerei‘ bezeichnet wird, obwohl fast jeder Vater und jeder Lehrer selbst einmal onaniert hat und einige noch onanieren […]), da Onanie jeden Einzelnen […] betrifft, ist man gerne bereit auf Fragen zur Homosexualität einzugehen, zu der ja erheblich weniger oder gar keine direkten Berührungspunkte bestehen.[9]
Volker Wöhl

Im Gegensatz dazu zeigt sich bei der Frage nach der Kenntnis des Begriffs „lesbischen Liebe“ ein deutliches Wissensdefizit, was auf eine geringere öffentliche und pädagogische Auseinandersetzung hindeutet. Ergänzend muss hinzugefügt werden, dass Begehren zwischen Frauen historisch oft weniger beachtet und sichtbar gemacht wurde als männliche Homosexualität. Diese Marginalisierung hat zu einem geringeren öffentlichen Bewusstsein und einer eingeschränkten Diskussion im Vergleich zur männlichen Homosexualität geführt.

Was die Zahl der Jugendlichen betraf, die keine Angaben machten, so ordnete Wöhl sie nicht zwangsläufig als unwissend ein. Vielmehr deutet er darauf hin, dass viele von ihnen, aufgrund fehlender Sexualaufklärung, nicht in der Lage wären, richtige Antworten oder eine passende Umschreibung derselben zu geben. Dies unterstreiche noch einmal die Notwendigkeit einer Sexualerziehung im Unterricht.

Ein Fazit
Sexualkunde ist ein unverzichtbarer Bestandteil des schulischen Curriculums, der nicht nur Wissen vermittelt, sondern auch zur ganzheitlichen Entwicklung von Jugendlichen beiträgt. Sie ist ein Schlüssel zur Förderung von Gesundheit, Respekt und persönlicher Entfaltung. Insbesondere bei queeren Themen wie sexueller Orientierung, Geschlechtsidentität und Vielfalt kann sie SchülerInnen stärker sensibilisieren. Dies fördert eine respektvolle und inklusive Haltung gegenüber anderen und hilft, Diskriminierung und Mobbing entgegenzuwirken.

Aus Wöhls Studie lässt sich das Fazit ziehen, dass eine frühere Enttabuisierung und intensivere Aufklärungsarbeit im Unterricht zu einer schnelleren gesellschaftlichen Entwicklung beigetragen hätten. Wären Themen wie Homosexualität und lesbische Liebe schon seit den 1970er Jahren früher und offener behandelt worden, wäre das Wissen der Jugendlichen schon zu einem früheren Zeitpunkt umfassender und die Akzeptanz vielfältiger Lebensweisen bereits weiter fortgeschritten.

Screenshot Studie

Archivalische Quellen
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Wöhl, Volker: Das sexualwissen Jugendlicher im Raum Schwäbisch Gmünd – eine empirische Untersuchung über sexualkundliche Kenntnisse 12 – 16-jähriger Schüler, Zulassungsarbeit zur ersten Dienstprüfung für das Lehramt an Grund- und Hauptschulen zum Sommer-Semester 1970, Pädagogische Hochschule Schwäbisch Gmünd (Landesarchiv Baden-Württemberg, Staatsarchiv Ludwigsburg (LABW StAL), EL 251 II, Bü 746).

 

[1] Wöhl, Volker: Das Sexualwissen Jugendlicher im Raum Schwäbisch Gmünd – eine empirische Untersuchung über sexualkundliche Kenntnisse 12- bis 16-jähriger Schüler, Zulassungsarbeit zur ersten Dienstprüfung für das Lehramt an Grund- und Hauptschulen zum Sommersemester 1970, Pädagogische Hochschule Schwäbisch Gmünd (LABW StAL, EL 251 II, Bü 746).

[2] Ebd. S. 7.

[3] Ebd. S. 4.

[4] Haupt-, Real-, Gewerbeschulen und dem Aufbaugymnasium. Ebd. S. 10.

[5] Ebd. S. 12 – 15.

[6] Was die Verwendung der Begriffe angeht, ist die Studie nicht ganz eindeutig: Homosexualität bezeichnet eigentlich Liebe und Sexualität zwischen gleichgeschlechtlichen Menschen. Sie betrifft Frauen (Eigenbezeichnung Lesbisch) und Männer (Eigenbezeichnung Schwul). Wöhl verbindet die Bezeichnung „Homosexuell“ aber im Kontext mit gleichgeschlechtlichliebenden Männern und „lesbische Liebe“ in Bezug auf gleichgeschlechtlichliebende Frauen. Auch für „Onanie“ wäre der eindeutige Begriff „Masturbation“ geeigneter. Aus Gründen der Transparenz soll die von Wöhl verwendete Terminologie dennoch beibehalten, aber in Anführungszeichen gesetzt werden.

[7] Ebd. 24 – 42.

[8] Ebd. S. 42 -49.

[9] Ebd. 48.

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