Eine Kurzgeschichte von
Hanna Schramek

Ist der Himmel blau?

Leise fällt die Tür hinter ihm ins Schloss. Er schaut kurz auf seine Armbanduhr, das Regenbogenkettchen, ein Geschenk seiner Mama, blitzt unter dem Pullover hervor. Eine Provokation. Normalerweise. Er wappnet sich innerlich für den Schultag. Er atmet langsam aus. Das wird schon. Heute ist ein neuer Tag. Das wird schon. Vielleicht ist heute besser als gestern. Und als die Tage davor, vor allem als die Tage davor. Das wird schon.

Er schaut nach oben. Heute ist der Himmel strahlend blau.

Er macht sich auf den Weg. Entlang kleiner Seitenstraßen und vorbei an spielenden Kindern, lächelnden Nachbarn und freundlichen Postboten geht er. Er schaut sich verwundert um. Wie glücklich heute jeder ist! Er lächelt in sich hinein. Vielleicht wird ja heute wirklich ein guter Tag.

Heute ist der Himmel strahlend blau.

Im Bus entdeckt er Freddie Mercury. Den echten Freddie Mercury. Witzig, dass der ausgerechnet heute in seinem Bus sitzt! Er setzt sich neben ihn. Und als würden sie sich schon seit Ewigkeiten kennen, umarmt ihn Freddie, „Hey, wie läuft´s so?“

Dann plötzlich inmitten der Diskussion, ob „I want to break free“ oder „We are the champions“ besser ist, stupst Freddie ihn an: „Weißt du“, sagt Freddie, „weißt du, dass das Mädchen vorne links dich schon die ganze Zeit anschaut?“ Alex schaut aus dem Fenster. Der Himmel ist strahlend blau. „Die steht bestimmt auf dich!“ Freddie zwinkert ihm zu und lacht. Er zuckt lächelnd mit den Schultern. Der Himmel ist strahlend blau, als er aussteigt.

Der sonst laute Schulflur hält heute vor Bewunderung den Atem an. „Da kommt er!“, flüstert er, „Da kommt Alex, schaut wie cool er aussieht!“ Überall folgen ihm bewundernde Blicke, viele machen ihm Komplimente über sein Outfit. Mit jedem Kommentar spürt er, wie er aufrechter geht, sich selbstbewusster fühlt. Das breite Grinsen in seinem Gesicht lässt sich gar nicht mehr abwischen. Geil, wie es sich anfühlt, so gemocht zu werden!

Er sonnt sich in der ungeteilten Aufmerksamkeit seiner Klassenkameraden und lässt sich mit Komplimenten überhäufen.

„Jooo Alex, freshe Frisur!“

„Hey, was geht! Nices Outfit heute!“

„Eeey Alex, was ist los mit dir, du schnappst uns noch die ganzen Mädels weg!“. Er lacht. Was für ein Tag! Was für ein geiler Tag!

Er sieht sich um. Er begegnet offenen Gesichtern, breitem Grinsen und herzlichen Umarmungen. Er kribbelt vor Aufregung und Freude. Er hatte Recht. Heute ist der Tag. Der Tag, der besser ist als alle Tage davor. Er lacht vor Erleichterung, platzt beinahe vor Freude. Heute ist es soweit. Endlich.

Es ist schon nach fünf, als ich mich auf den Heimweg begebe. Ich lächle immer noch etwas vor mich hin. Was für ein Tag. Ich atme erleichtert auf.

Die Luft ist kühler geworden, bemerke ich. Es ist egal. Ich lächle. Heute ist ein toller Tag. Ich sehe nach oben. Der Himmel ist grau geworden. Ich laufe weiter. Es ist derselbe Weg von heute Morgen. Nur wirkt der jetzt anders. Düsterer. Keine spielenden Kinder auf den Straßen. Keine lächelnden Menschen. Der Postbote wirft mir einen angewiderten Blick zu. Ich runzle die Stirn. Hat er mich heute Morgen nicht freundlich angelächelt? Kopfschüttelnd gehe ich weiter.

„Heee pass auf, wo du hinläufst, Transe!“, ein Jugendlicher rempelt mich an und spuckt mir vor die Füße. Ich schaue ihm verwundert hinterher. Was war das gerade?

Ein Schauer läuft mir den Rücken hinunter. Wann ist es so kalt geworden…

Ich laufe verwirrt weiter. Der Himmel hat sich in ein trübes Grau verfärbt.

Gänsehaut stellt meine Nackenhaare plötzlich auf. Ich blicke nervös umher. Eine Seitengasse liegt links von mir. Ich bleibe stehen. Kein Licht kommt aus der Gasse. Nein. Kein Licht erreicht die Gasse. Es scheint als verschlucke die Gasse jegliches Licht, bevor dieses die Chance hat, jene zu erhellen. Einem schwarzen Loch gleicht sie.

Ich gehe einen Schritt. Ein kalter Schauer rinnt mir den Rücken hinunter, mein Brustkorb knotet sich zusammen. Noch ein Schritt. Ein mulmiges Gefühl breitet sich in mir aus. Irgendetwas stimmt nicht. Irgendetwas ist komisch. Es passt nicht. Mir wird schlecht. Ich schaue nach oben. Warum ist der Himmel grau? Mein Herz pocht stark. Ich fühle mich als wäre ich Kilometer gerannt. Kalter Schweiß bricht mir aus. Ich werde das Gefühl nicht los, dass hier etwas nicht stimmt. Ich schüttle den Kopf. Langsam breitet sich Panik in mir aus. Etwas Unheimliches geht von dieser Gasse aus. Ich kneife meine Augen fest zusammen.

So sollte es nicht sein. Nein. Der Himmel sollte strahlend blau sein, jeder sollte fröhlich sein, warum ist niemand fröhlich, warum bin ich allein, warum ist niemand fröhlich, warum ist niemand fröhlich? Und warum ist der Himmel nicht strahlend blau! Vor Angst und Panik erstarrt, sehe ich tiefer in die Gasse hinein. Das ist nicht richtig so, so sollte es nicht sein. Das Bild vor meinen Augen flackert. Verzerrt sich. Richtet sich wieder. Ich schaue nach oben. Der Himmel ist dunkel. So dunkel. Zu dunkel. Er sollte blau sein. Strahlend blau.

Gänsehaut breitet sich kribbelnd über meinen Körper aus, meine Pupillen weiten sich. Schatten kriechen aus der Gasse – verschlucken das Licht. Wo kommen die Schatten her? Schauer rinnen über meinen Rücken. Ich beginne zu zittern. Immer mehr Schatten strömen aus der Gasse, schlängeln über den Zementboden, winden sich um meine Knöchel, ziehen sich wie ein Netz um mich zusammen. Kalter Schweiß, panische Herzschläge, eine unheimliche Ahnung.

Ich muss hier weg. Ich muss hier weg. Ich muss sofort hier weg! Doch die Schatten halten mich, drohen mich zu verschlingen.

Ein schrilles Piepsen durchdringt die Gasse, schallt von den Wänden, dringt in meinen Kopf – ist überall. Das Bild flackert. Verzerrt sich. Richtet sich. Verschwindet.

Schmerzen. Panik. Dunkelheit.

Eine Stimme.

„Kammerflimmern!“

Ein Bild. Eine Erinnerung. Von jenem Tag.

„Wiederbelebung in 3, 2, 1…!“

Ich in der Gasse. Allein. Eine Abkürzung.

„Neu laden!“

Ich in der Gasse. Nicht länger allein.

„Neu laden!“

Ich in der Ecke. Umzingelt. Angespuckt. Transe.

„Neu laden!“

Ich im Dreck. Schläge. Tritte. Hiebe. Transe.

„Neu laden!“

Ich zusammengerollt. Blut. Meins. Zuviel.

Rufe. Die Fäuste verschwinden. Blaue Augen.

Und Dunkelheit.

Gleichmäßiges Piepsen.

Ein weißes Bett, ein weißes Zimmer, ein gebrochener weißer Körper. Ein Zucken. Langsam öffnet der Patient seine Augen. Sein Bild flackert. Verzerrt sich. Richtet sich.

Ein Fenster. Ein Blick. Der Himmel ist grau.

Tränen kullern über sein Gesicht. Es schmerzt. Alles. Er atmet langsam aus. Wimmert. Sein Brustkorb fühlt sich leer an. Mehr Tränen laufen über sein Gesicht. Seine Gedanken ziehen ihn in die Verzweiflung, die Trauer. Die Realität hat ihn eingeholt. Der Himmel ist grau. Strahlend blau war der Traum. Leere füllt ihn, droht ihn zu ersticken. Seine Welt, bloße Fantasie. Die Gesellschaft, verängstigt von dem Unbekannten. Akzeptanz, unmöglich. Hass allgegenwärtig. Heute wie gestern.

Die Tür zu seinem Zimmer öffnet sich einen Spalt. Er dreht seinen Kopf.

Ein junger Mann. Ein zögerliches Lächeln. Blaue Augen. „Hey.“

Exposé

In meiner Kurzgeschichte möchte ich auf die Gewalt gegen Transsexuelle aufmerksam machen, da das Problem schon des Öfteren zum Thema wurde.

Ich beginne meine Kurzgeschichte in der Er-Perspektive, um den Charakter eines Traumes stärker zu verdeutlichen. Der junge Mann, in dem es in meiner Geschichte geht, befindet sich in einem Traumzustand. Dieser wirkt zunächst sehr positiv, fröhlich und auch hoffnungsvoll. Dass der erlebte Tag nur ein Trau ist, bemerkt die Hauptperson allerdings nicht. Aufgrund der fehlenden Realisation des Protagonisten, dass es sich um einen Traum, nicht um die Wirklichkeit handelt, zieht der Protagonist den Schluss, dass sich die Welt quasi über Nacht verbessert hat. Er freut sich endlich akzeptiert zu werden, nach jahrelanger Diskriminierung scheint dem endlich ein Ende gesetzt zu sein. Er zweifelt nicht an seiner Behauptung, sondern akzeptiert den Traum sofort als Realität. Diese Handlung zeigt, dass er schon lange Zeit hofft, dass ihn die Welt und die Gesellschaft akzeptiert, sodass er nur allzu bereit ist den Traum als Wirklichkeit anzuerkennen.

Eine entscheidende Wiederspiegelung dieser Hoffnung ist die Wiederholung „der Himmel ist (strahlend) blau“. In dem Traum ist der Himmel klar und blau, was übertragen für eine positive Entwicklung steht.

Der Traum erhält seinen Wendepunkt mit dem Wechsel in die Ich-Perspektive. Außerdem verdunkelt sich der Himmel und somit auch der Traum. Der Protagonist bemerkt diesen Wandel in seinem Traum und nimmt ihn als bedrohlich und gruselig wahr. Die Ich-Perspektive versetzt dabei den Leser mehr in die Hauptperson, was zu einer stärkeren Wahrnehmung des Lesers von der jetzt düsteren Situation führt. Der Traum verwandelt sich langsam in einen Albtraum.

Ein plötzliches schrilles Piepsen unterbricht den Traum. Der Traum wird gestört durch Elemente, welche parallel zu jenem in der Realität geschehen. Dies veranlasst die Hauptperson dazu, sich zu erinnern, was wirklich geschah. Anstatt eines Erwachens erhält der Leser Flashback zu dem Tag, an welchem der Protagonist Opfer von Hasskriminalität aufgrund seiner Transsexualität wurde. Der Traum entpuppt sich als bloßes Wunschdenken des Protagonisten, in dessen Widerspruch die Realität steht. Er verdrängt in diesem Traum den Anschlag auf sich und stellt sich stattdessen eine utopische Welt vor, in welcher Hass und Ausgrenzung von Akzeptanz und Offenheit vertrieben wurden.

Das Erwachen in dem Krankenhaus ist wieder in der Er-Perspektive verfasst worden, um Abstand zu der Hauptperson zu erlangen. Seine Enttäuschung und sein Schmerz, als er zu der Realisation erlangt, dass seine perfekte Welt in Wirklichkeit nicht existiert und der Grund seines Aufenthaltes den Folgen von Hasskriminalität zu verschulden ist, äußern sich in Tränen. Die Beschreibung dieses Trauerprozesses ist zu Beginn knapp und wird dann im Laufe weiter ausgeführt, was eine Steigerung seiner Verzweiflung bezweckt. Gerade als er an den Rand seiner Verzweiflung stößt, öffnet sich die Türe zu seinem Zimmer.

Blaue Augen.

Der junge Mann mit den blauen Augen bietet einen hoffnungsvollen Ausblick auf die Zukunft. Es wird angedeutet, dass jener Mann den Protagonisten bei dessen Attacke geholfen hat. Am Schluss schaut er in das Zimmer des Protagonisten. Er stellt die Hoffnung dar, die der Protagonist bereits verloren hat („blauer Himmel“) und erweckt in dem Protagonisten somit einen neuen Funken Hoffnung, dass die Welt sich vielleicht schon ein kleines bisschen verändert hat. Dass Veränderungen möglich sind, der Ausblick in die Zukunft vielleicht wirklich blau ist. Daher rührt die von dem Protagonisten zögerlich gestellte Frage, welche nicht mehr erwähnt, aber in der Überschrift aufgegriffen wurde, „Ist der Himmel blau?“. Kann sich die Welt und die Gesellschaft ändern? Ist die Zukunft besser als heute?

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